Es war einmal vor langer, langer Zeit. Da erließ ein mächtiger Herrscher in seinem Reich ein höchst ungewöhnliches Gesetz. Von einem
Tag zum anderen mussten alle Untertanen ausnahmslos dasselbe lieben und dasselbe hassen wie er. Auf sein Geheiß hatten die Hofgelehrten ellenlange Listen erstellt und fortan war es unter Strafe verboten, etwas, was auf der Hassliste stand, zu lieben oder umgekehrt.

Natürlich waren auch alle Tiere davon betroffen. Sie wurden in zwei Gruppen eingeteilt und hatten als Nützlinge oder Schädlinge zu gelten. Nützlinge mussten geliebt und gepflegt und Schädlinge gehasst und möglichst getötet werden. Mit besonderem Hass wurden Luchs, Fuchs, Bär und Wolf, aber auch alle Vögel mit krummen Schnäbeln verfolgt. Man hatte sich für sie sogar eigens einen neuen Namen ausgedacht. Raubtiere wurden sie genannt.

Eigentlich hatte alles seine gute Ordnung. Wenn nicht, ja, wenn nicht in jenem Reich ein Junge gelebt hätte, der es nicht fertig brachte, irgendein Tier zu hassen. Er liebte sie alle, aber unglücklicherweise galt seine besondere Zuneigung den Wölfen. Keine Frage, das war streng verboten. Doch immer, wenn er sich unbeobachtet glaubte, schlich er in den Wald, um sie zu treffen. Er fand sie nicht jedes Mal, denn die Wölfe waren überaus scheu geworden und fürchteten die Menschen. Es verging eine ganze Weile, bis sie begriffen, dass dieser Junge ihr Freund war. Von da an ließen sie sich nicht mehr stören, liefen nicht mehr davon, so dass er sie in aller Ruhe beobachten konnte. Immer auf der Hut vor seinen Mitmenschen, die sein verbotenes Tun verraten könnten, verbrachte er Tage und Nächte im Wald und wurde mit den Wölfen immer vertrauter. Es dauerte nicht lange, da konnte er sich sogar in ihrer Sprache mit ihnen verständigen. Unnötig zu sagen, dass ihn das sehr glücklich machte.

Als er in einer schönen mondhellen Nacht mitten auf einer Lichtung wieder einmal sein Wolfsgeheul anstimmte, antworteten ihm die Wölfe aus der Ferne wie einem Artgenossen. Seine Freude darüber war unbeschreiblich. Leider aber war sie nur von kurzer Dauer. In jenem Reich gab es nämlich Männer, die den Auftrag hatten, alle Tiere, die mit dem Fluch „Raubtier“ belegt waren, zu verfolgen und zu töten. Für ihre als sehr gefährlich angesehene Arbeit, der sie aber mit Feuereifer nachgingen, wurden sie gut belohnt. Man nannte sie Waidmänner. Ein solcher Waidmann saß in jener Nacht gut getarnt in einem Baum am Rande der Lichtung. Er sollte den einsamen Wolf, der sich hier in der Nähe herumtreiben musste, erledigen.

Es kam, wie es kommen musste. Zwar erkannte der Waidmann noch rechtzeitig, dass er keinen Wolf, sondern einen wie ein Wolf heulenden Menschen vor sich hatte und ließ die Waffe sinken. Aber für den Wolfsjungen war das, was dann folgte, auch noch schlimm genug. Man sperrte ihn in den Kerker, man zerrte ihn vor Gericht, man klagte ihn an. Dennoch hatte er Glück im Unglück. Dank eines Fürsprechers wurde ihm die Höchststrafe erlassen, sodass er mit dem Leben davonkam. Dafür wurde er mit Schimpf und Schande aus dem Land gejagt.

Diese Geschichte kam dem König jenseits der Grenze zu Ohren. Er ließ den Jungen suchen und zu sich bringen. Dann schlug er ihm einen Handel vor. Seine Bedingungen waren seltsam genug. Sollte es nämlich dem Jungen gelingen, alle Wölfe aus den nahen Wäldern wohlbehalten in ein großes, eingezäuntes Gehege zu bringen, könnte er bis zu seinem Lebensende im Lande bleiben und sich nach Herzenslust den Tieren widmen. Sollte er jedoch diese Aufgabe nicht lösen, würde man mit ihm und auch mit den Wölfen kurzen Prozess machen. Was blieb dem Wolfsjungen übrig? Er hatte ja keine Wahl. Schweren Herzens wandte er das an, was er von den Wölfen gelernt hatte. Nur mit seiner Stimme lockte er sie aus den Wäldern in das vorgesehene Gehege im Schlosspark.

Hier ging es den Wölfen nicht schlecht. Sie gewöhnten sich an die Umzäunung. Sie litten nie mehr Hunger. Sie langweilten sich ein wenig. Aber sie liebten ihren Betreuer, den sie bald als eine Art Wolf ansahen. Sie vermehrten sich, sie setzten mit der Zeit etwas Fett an und wurden ein wenig träge. Nur an Sonn- und Feiertagen, wenn das Volk in den Schlosspark gelassen wurde, flohen sie in die entfernteste Ecke ihres Geheges und versteckten sich so gut es eben ging. Dennoch ließ sich die neugierige Menge nicht abhalten. Dicht gedrängt stand sie am Zaun und verfolgte gebannt jede Bewegung der Tiere. Da sich die Menschen jetzt nicht mehr vor den Wölfen fürchteten, kamen sie ihnen fast so vor wie Hunde, die sie auf den Höfen und bei den Schafen hielten.

Aber es gab immer noch ein paar Unverbesserliche, die schürten weiter den Hass, der, einmal angefacht, jede Landesgrenze überspringt. Sie hätten die Wölfe am liebsten alle getötet, damit, wie sie sich ausdrückten, endlich Ruhe ist. Dafür hatten sie auch ein ganz neues Wort erfunden: Sie wollten die Wölfe ausrotten, sagten sie. Aber der König des Landes war damit nicht einverstanden. Es gefiel ihm, wie es war.

So verstrich eine lange ruhige Zeit. Bis zu jenem Unglückstag, an dem plötzlich eine Lücke im Gehegezaun klaffte, gerade so groß, dass ein Tier hindurch schlüpfen konnte. Es dauerte nicht lange, bis es die Wölfe entdeckten. Da erinnerten sie sich an die Freiheit und einer nach dem anderen suchte das Weite. In Windeseile verbreitete sich die Nachricht: Die Wölfe sind frei, die Wölfe sind los! Alles war vergessen. Angst und Schrecken herrschte wieder im ganzen Land und darüber hinaus. Und – was noch schlimmer war, der alte Wolfshass flammte wieder auf und erhielt täglich neue Nahrung.

Der Wolfsjunge, aus dem ja längst ein Mann geworden war, wurde gesucht und in Gewahrsam genommen. Natürlich war er es, der unter Verdacht stand, die Wölfe frei gelassen zu haben. Doch er leugnete hartnäckig. Nie hätte er etwas unternommen, was seine Freunde in Gefahr bringen würde. Doch man glaubte ihm nicht. Schließlich fesselte man ihn und schleifte ihn in den Wald. Dort wurde er gezwungen, wie ein Wolf zu heulen. Natürlich hoffte der König, was einmal gelungen war, könnte auch ein zweites Mal glücken. Diesmal jedoch erschienen die Wölfe nicht, denn der Wolfsmann hatte sie mit seinem Ruf nicht gelockt, sondern gewarnt. Das war alles, was er noch für sie tun konnte.

Da gab der König auf Drängen seiner Ratgeber sein Wohlwollen auf und rief den Krieg gegen die Wölfe aus. Dieser Krieg wurde von allen Männern, die eine Waffe hatten, furchtbar und erbarmungslos geführt. Obwohl sich die Wölfe in alle Himmelsrichtungen zersteuten, kamen täglich neue Siegesmeldungen über erschlagene und erschossene Feinde. Frauen und Kinder, die nicht an dem Feldzug beteiligt waren, versteckten sich in den Häusern und verrammelten die Türen. Schafe und Rinder wurden von der Weide geholt und in den Stall gesperrt. Felder wurden nicht mehr bestellt und die Dorfstraßen waren selbst tagsüber menschenleer.

Endlich traf die Siegesmeldung ein. Die Waidmänner schrieen am lautesten und tuteten ins Horn: Wolf tot! Horrido, der Krieg ist gewonnen! Kein einziger ist mehr am Leben! Alle sind erledigt! Wir haben die Wölfe ausgerottet! Die toten Tiere wurden auf dem Schlossplatz aufgereiht und zur Schau gestellt. Das Volk eilte herbei, um ein großes Fest zu feiern. Auch der Wolfsmann wurde geholt, denn er war ja der einzige, der jeden Wolf im Lande kannte. Nur er konnte wissen, ob nicht einer fehlte.

Der erwies seinen toten Freunden die letzte Ehre und betrachtete sie lange, lange. Die Anzahl stimmte. Aber zwischen den erschossenen und erschlagenen Wölfen entdeckte er eine Hündin, der ihre Wolfsähnlichkeit zum Verhängnis geworden war. In seine unendlichen Trauer, mischte sich ein winziger Hoffnungsschimmer. Eine tragende Wölfin, die bald ihre Jungen bekommen sollte, musste demnach noch am Leben und in Freiheit sein. Er verriet sein Geheimnis keinem Menschen und hat es sicher mit ins Grab genommen.

Jene Wölfin aber, der es gelang, sich vor den Menschen zu verbergen und die schlau genug war, keine Spuren zu hinterlassen, brachte in der Abgeschiedenheit der Wälder ihre Jungen zur Welt. Es waren fünf prächtige, gesunde, neugierige Welpen. Sie wuchsen schnell, lernten von ihrer klugen Mutter alles, was ein Wolf wissen muss, um in einer feindlichen Welt zu überleben. Und als sie erwachsen waren, zerstreuten sie sich in alle Winde, jeder auf der Suche nach seinem eigenen Glück.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.

 

Text: Karin Hutter