Manches glaubt man einfach nicht, bis man es mit eigenen Augen gesehen hat. Meine Freundin Katharina zum Beispiel, Ur-Berlinerin aus dem Westteil der Stadt und eine große Tierfreundin, hatte keine Ahnung. Neulich stand sie das erste Mal am Bärenzwinger im Köllnischen Park, sah die Tiere und brach in Tränen aus. Ich bin überzeugt, wüssten viel mehr Menschen, dass in Berlin noch immer Braunbären im Zwinger gehalten werden, die öffentliche Empörung wäre riesengroß.

Sie werden ja nicht irgendwo auf dem Balkan zur Volksbelustigung präsentiert, sondern hier und heute in Berlins schicker Mitte, frei zugänglich, gleich neben dem Märkischen Museum. Und das in einer Zeit, in der der Tierschutz Verfassungsrang hat und mittelalterliche Taditionen der Vergangenheit angehören dürften.

Seit der Eröffnung dieses Bärenzwingers im Jahre 1939 hausten dort insgesamt zwölf erwachsene Tiere, die die unvorstellbare Zahl von 55 Jungen in diese beschränkte Welt setzen mussten. Was blieb ihnen anderes übrig? Die meisten Jungbären wurden an Zoos und Zirkusse im In- und Ausland verschenkt, verschickt, verschachert. Sicher wurde auch so mancher Staatsbesuch mit einem echten Berliner Wappentier bedacht. Bärenbabys sind – wie wir spätestens seit Knut wissen – sehr beliebt…

Heute gibt es nur noch Schnute und Maxi. Es sind Mutter (27) und Tochter (22). Der Vater war der Bruder der Mutter. Obwohl Bären in Gefangenschaft nicht selten 35 bis 45 Jahre alt werden, lebt Maxis Vater schon lange nicht mehr. Auch der letzte Bärenmann, Tilo, erkrankte schwer an Lymphdrüsenkrebs und wurde 2007 euthanasiert. „Eingeschläfert“ ist das nettere Wort dafür.

Die verbliebenen beiden Bärinnen trotten seit über 20 Jahren auf zwei U-förmigen Betonstreifen am Grabenrand entlang. Zehn schlurfende Schritte hin und wieder zurück. Auf Naturboden hätten sie längst eine tiefe Rinne getreten. Immer wieder werfen sie mit einer kleinen Drehung den Kopf nach hinten. Typische Stereotypien von Bären in Gefangenschaft. Ein paar Autoreifen, zwei Alu-Bierfässer, die in einer Art Kinderplanschbecken dümpeln und der Aufenthalt im Stallgebäude dienen als Abwechslung. Manchmal kommen Kinder vom nahen Spielplatz an den Grabenrand und versuchen die Bärinnen durch Schreien und Pfeifen aus ihrer Lethargie zu locken. Meist vergebens. Den Höhepunkt des Tages bildet die Fütterung um die Mittagszeit. Die ist offensichtlich gut und reichlich. Dazwischen aber herrscht gähnende Langeweile. Die paar Touristen, die sich gelegentlich in den Park verirren, den Zwinger und die Bären entdecken, ändern daran nichts.

Während sich alle Welt um das Wohlergehen eines jungen Eisbären im Berliner Zoo sorgt und jede seiner Lebensäußerungen kommentiert und dokumentiert, wird den beiden Braunbärinnen kaum öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Von der nahezu wortgleichen Berichterstattung der regionalen Medien, alle Jahre wieder zum Bären-Geburtstag, einmal abgesehen.

Natürlich existieren Auflagen und Vorschriften für die Haltung von Wildtieren in Gefangenschaft. Die minimalen Richtwerte jedoch, nach denen beispielsweise zwei Braunbären ein Außengehege von lächerlichen 150 qm und jedem weiteren Bären 20 qm zusätzlich zugestanden wird, sind leicht einzuhalten. Angeblich werden sie im Berliner Zwinger sogar überschritten – was wiederum ein Einschreiten von Amts wegen unnötig macht. Keine Beanstandungen. Alles in bester Ordnung. Selbst eine teure Fußbodenheizung im Stall gönnte man den für Arthrose anfälligen Petzen.

Aber ist das ein Bärenleben? Reduziert auf regelmäßige Mahlzeiten, ein paar Schritte Hofgang, ab und zu Besuchszeit und ein Dach über dem Kopf? Auf Menschen angewandt, hieße das Gefängnis – und zwar lebenslänglich. Unschuldig zweimal lebenslänglich!

Ohne Zweifel: Diese Bären-Haltung ist nicht artgerecht. Das sieht jeder, der sich ein wenig Mitgefühl bewahrt hat und sich an Bilder und Filme von Braunbären im Freileben erinnert. Doch läuft die Forderung nach einer „artgerechteren“ Haltung der lebendigen Berliner Wappentiere ins Leere. Die Gefangenschaftshaltung von Braunbären – wie auch von Elefanten, Eisbären, Delfinen – kann niemals artgerecht sein. Artgerecht ist nur die Freiheit. In Zirkussen, Zoos und Zwingern geborenen Bären können nicht ausgewildert und in die Freiheit entlassen werden. Aber man kann ihnen ein besseres Leben ermöglichen. Ein Leben, in dem sie ihr zwanghaftes Verhalten verlernen und ihre arttypischen Bedürfnisse wieder entdecken und befriedigen können: die Umwelt mit allen Sinnen erleben, Natur riechen und schmecken, auf Futtersuche gehen, nach Lust und Laune baden und schwimmern, Kontakt mit Artgenossen aufnehmen, sich – auch vor Menschen – verstecken, eine Höhle graben, Winterruhe halten. Das alles kommt einem Bärenleben in freier Wildbahn schon sehr nahe.

Dass dies keine Utopie sein muss, beweisen Bärenschutzzentren in Deutschland und anderswo. Dort finden Braunbären aus schlechter Haltung ein neues Zuhause. Und auch die letzten Berliner Zwinger-Bärinnen sollten schnellstens ihre Chance bekommen auf ein paar schöne, bärige Jahre! Die haben sie wahrlich verdient!

Dann könnte aus dem Berliner Bärenzwinger das werden, was er längst schon ist: ein Bären-Museum – jedoch endlich ohne lebende Tiere. Das wäre eine echte Touristenattraktion, eine gute Werbung für Berlin und die sprichwörtliche Tierliebe der Berliner.

08.10.2008